Monate, ja Jahre lang tun wir mit der Weißkugel schon rum. Als Kind hat ich die Besteigung schon vor. Der Vater hat einen elendslangen Firngrat versprochen, der bezwungen werden will. Okay, den wird die Klimaerwärmung entschärft haben . Vor sechs Jahren hat Ulli, als der Krebs schon weit fortgeschritten war, dem Onkologen auf die Frage, was sie sich denn noch vorgenommen hat, launisch und zuversichtlich, nur wie sie es konnte geantwortet: „Die Weißkugel besteigen!“. Irgendwie hat sich die Story ab da verselbständigt, dass Gernot und ich Ulli versprochen hätten, die Weißkugel für sie zu erledigen. Daran kann ich mich aber nicht erinnern. Vielleicht haben Gernot und ich mal posthum gesagt, dass wir die Weißkugel für sie machen. Was auch immer der Beweggrund war, die Top 3 der höchsten Berge in Österreich sind „erledigt“. Die Liste gibt es hier.
Renates Füße haben sich mit den neuen Einlagen arrangiert. So arrangiere ich mich mit dem Faktum, dass ich 57 bin, viel Zeit habe und es eigentlich nebensächlich ist, ob ich die Weißkugel in eineinhalb oder zweieinhalb Tagen bewerkstellige. Ich akzeptiere gar schon, dass ich die Weißkugel ohne Übernachtung nicht mehr schaffe. Zwei Übernachtungen erscheinen mir schon sehr komfortabel geplant. Ich spekuliere damit, dass, wenn nicht wir, so doch Gernot, nach der Besteigung noch ins Tal absteigt und heimfährt. Aber es kommt besser. Nun der Reihe nach.
Am Dienstag beschließen Renate und ich, dass wir am Mittwoch aufbrechen und am Donnerstag Gipfeltag ist. Gernot ist spontan dabei, kann aber erst am Donnerstag in Kärnten los. So fahren Renate und ich am Mittwoch los und übernachten in Nauders. Am Donnerstag ist es zu unserem Treffpunkt beim Almhotel Glieshof nur noch ein kurzes Stück. Der Glieshof sieht von außen überaus fein aus. Das nächste Mal quartieren wir uns hier ein! Gernot hat es von Kärnten aus kilometermäßig nur halb so weit wie wir. Aber er kommt mit einer Geschwindigkeit wie Mio, wenn man ihn ruft.
So starten wir nach 14 Uhr. Die Sonne brennt runter. Upps, das wird zäh. Auf der Hütte kommen dann die ersten Überraschungen. Wir haben ein Vierbettzimmer mit Bad. Oha, Dusche und Handtuch warten auf uns. Gernot bekommt das Stockbett wir das Doppelbett. Wir hätten gar ein Doppelzimmer haben können, aber dann hätte Gernot in ein Sechserzimmer müssen. Da nehmen wir ihn doch bei uns auf. Sogar eine „Sonnenterrasse“ bietet unser Zimmer. Da werden wir wohl nicht fluchtartig noch absteigen. Hier hält man es aus. Die Hütte ist in tollem Zustand, das Essen soll auch gut sein und ist auch wirklich gut.
Edwin, der Hüttenwirt, meint, dass das Matscher Wandl aktuell in perfektem Zustand ist. Das hat auch schon die Wirtin bei der Buchung gesagt. Jepp, das ist fein! Keine Eisschrauben, keine Angst im steilen Eis. Was soll da noch schiefgehen?
15 Gäste sind wir. Zwei Gäste haben getrennt einen Bergführer für die Weißkugel gebucht. Diese zwei Gruppen – die einen nennen wir die Geschwinden, die anderen die Moderaten – und wir werden also am Donnerstag von der Oberetteshütte Richtung Weißkugel aufbrechen. Das ist sehr wenig. Frühstück gibt es um halbsechs. Na zack, das ist aber früh. Sonnenaufgang ist sieben Uhr. Ich überlege. Okay, es wird warm wie an einem Sommertag. Da will man nicht in einem steilen Firnhang herumeiern. Wie auch immer, kurz nach halbsieben stehen wir vor der Hütte. Vor uns sieht man die Stirnlampen der beiden Gruppen. Wir starten mit dem ersten Morgenlicht.
Nach der Hütte geht es 350 Höhenmeter auf einen Grat, weiter auf einem Plateau, ehe man wieder knapp 150 Meter absteigen muss. Uh, das ist steil, das wird am Rückweg kein Genuss werden. Dann noch ein Stück an einem sicherlich eher jungen „See“ links vorbei, ehe wir am aktuell unteren Ende des Matscher Ferners angelangen. Hier holen wir unsere beiden Gruppen von der Hütte ein. Sehe ich es richtig, haben die beiden Bergführer nur ein Strickerl mit, das nur ein Gehen am kurzen Seil erlaubt. Wir sind da mit unserem 60m langen Seil schon eher auf Spalten eingestellt. Ich vermute, dass wir wieder einen „sterbenden“ Gletscher begehen werden. Jepp, so ist es leider dann auch. Im unteren Drittel gibt es noch ein bisserl ein Spaltenlabyrinth. Wer wild ist, kann wahrscheinlich gerade aufsteigen. Er muss halt ein paar Mal ein, eineinhalb Meter in die Spalte und auf der anderen Seite wieder rauf. Die Spalten sind V-förmig im Querschnitt aber nicht tief. Wir sind natürlich brav und queren, bis wir über die Spalten einfach drübersteigen können.
Bald geht es dann noch mal weniger steil dahin, ehe man entscheiden muss, ob man steiler weitergeht und unter der Inneren Quellspitze Richtung Matscher Wandl zieht oder, ob man doch die flachere Variante wählt, die unterhalb einer markanten Felsinsel links in einem weiten Bogen führt. Wir machen es wie die Bergführer und das ist natürlich schlau so. Hier sind zwar noch einmal ein paar Querspalten zu nehmen, aber dann ist Ruhe mit den Behinderungen. Schattig ist es auch, und das ist definitiv angenehm. Trotzdem keucht eine von uns drei schon ordentlich. Auch am Ende des steileren Abschnittes will sich keine Erholung einstellen. Jetzt ist es eigentlich nur noch ein flacherer Firnabschnitt.
Ist das da vorne schon das Matscher Wandl? Oha, das sieht dann doch ein bisserl wild aus. Die Erfahrung sagt, das Gegenhänge oder steile Hänge aus der Ferne und in Draufsicht immer wilder aussehen. Gernot ist beruhigt, ich noch nicht so ganz.
Während wir also langsam dahintrotten, fällt die Entscheidung. Gernot wird alleine gehen. Renate nehme ich ans kurze Seil. Das bringt mentale Sicherheit für sie. Ich bin mir sehr sicher, dass ein kurzes Seil zwischen uns nur bedeutet, dass wir mit hoher Wahrscheinlichkeit gemeinsam abfahren, wenn einer ausrutscht. Noch ehe wir am Einstieg sind, ist auch schon das erste Duo, die Geschwinden, durch das Wandl. Mah, das ging schnell. Die Moderaten lassen uns vor und so sind wir die nächsten.
Der Durchstieg ist dann eher einfach. Es schaut zwar an der ersten Querung das Eis raus, aber es sind gut haltende Schneereste fast in Stufenform vorhanden, die die Begehung recht einfach machen. Die Kehre ist steil, aber gut machbar. Kein Blankeis mehr, und die Steigung nimmt wieder ab. Wenn sich die Schneebedingungen nicht allzu sehr ändern, bin ich für den Abstieg entspannt.
Jetzt folgt noch ein flacher Firnhang und ein wenig spektakulärer Firngrat zum Steigeisendepot. Am Gipfel sehen wir schon emsiges Treiben. Steigeisen und Pickel liegen zuhauf herum. Oha, da ist eine große Gruppe von der Bella Vista Hütte heraufgekommen. Wir lassen Steigeisen und Pickel ebenfalls hier.
Gekraxelt wird ein bisserl ausgesetzt, aber nicht sonderlich schwer. Und dann ist da das kleine, nordseitige Schneefeld, das ich in einer Beschreibung gelesen habe. Man muss es absteigen. Ohne Pickel und Steigeisen ist das ein fragwürdiges Unterfangen. Aber ein mächtiges Seil ist doppelt gespannt. Es ist mit Bandschlingen und zwei Exen montiert. Wau, das sieht professionell und sehr neu aus. Da bin ich aber froh. Nur was, wenn das am Rückweg nicht mehr da ist? Dann stehen wir beim Gipfel ohne Ausrüstung! Hmm, schauen ma a mal.
Am Gipfel dann Gedränge. Die junge Truppe aus Südtirol hat gar zwei Hunde mit herauf gebracht. Der junge Mann erzählt, dass sie um 4:15 in Kurzras los sind und er die Sicherung aufgebaut hat. Alles viel Information. Die Leute hier haben also schon über zweitausend Höhenmeter in den Beinen. Sie lachen und scherzen. Und er ruft immer wieder „Mama, mach‘ des!“ und „Mama, hast du des eh a?“. Die Frau, die sich angesprochen fühlt, ist jünger als ich. Der Verstand kommt nicht nach. Ist die Luft zu dünn? Oha, da steht auch das g’schwinde Paar von unserer Hütte. Sie warten offenkundig schon ewig auf ungestörte Gipfelfotos.
Wir entscheiden schnell, dass wir nur kurz hier verweilen werden und stattdessen weiter unten rasten wollen. So können wir noch die Seilsicherung nutzen. Ja, das passt alles! Die Hunde, die Mama und noch ein paar Menschen sind schon weg. Wir schießen schnell die Fotos, und ich achte sorgfältig darauf, dass noch jemand aus der Südtiroler Gruppe hinter uns ist.
Tja, die Erkenntnis ist dann, dass der Aufstieg auch ohne Seilsicherung leicht machbar gewesen wäre. Da hätten wir also ruhig einsame Momente am Gipfel genießen können. Renate schließt sich gar dem g’schwinden Bergführer an und ist gar nicht mehr zu stoppen. Der zweite Bergführer ist mit seinem Gast auch da und sichert unbeabsichtigt eine bisserl kniffligere Stelle, indem er noch oben steht, während sein Gast ein paar Meter unter ihm Platz genommen hat. Der Gast kauert sich an den Fels und wir steigen drüber. Das ist ja wie auf den Achttausendern hier. Mann, da geht es zu. Ich bedanke mich höflich und ausführlich bei Bergführer und Gast und versichere mich bei dem doch etwas mitgenommenen Gast, ob eh alles in Ordnung ist. Ein bisserl deppert ist die Situation schon.
Beim Steigeisendepot dann die nächste Aufregung. Mama meint, dass ihre Steigeisen verwechselt wurden. Sie rennt dem g’schwinden Bergführer mit seinem Gast nach. Der ist schon im Abstieg und sicher, nichts verwechselt zu haben. Man ist irritiert. Logistisch kann niemand sonst die Steigeisen verwechselt haben. Gernot bietet seine 46er an. Auch meine werden nicht passen. Der junge Mann hat mittlerweile die Seilbrücke abgebaut und versucht aufzuklären. Ehe Mama ihren Fehler eingesteht, nimmt sie halt das Paar das noch über ist.
Wir pausieren noch ein bisserl, ehe es ins Wandl geht. Wieder bilden Renate und ich eine Schicksalsgemeinschaft, während Gernot ungesichert und doch bei geringerer Gefahr alleine absteigt. Runter ist es wie zu erwarten nochmals leichter. Die steile Kehre ist überstanden und in an den eisigen Stellen stützt der Schnee tadellos. Just unter der steilsten Stelle schauen einige Felsen aus dem Eis. Wer hier ausrutscht, hat gute Chancen, sich weiter unten zu fangen. Wäre da nur nicht dieses Felsband. Egal, wir sind durch. Ab jetzt heißt es durchhalten.
Wir wählen wieder die Variante unter der Felswand der Inneren Quellspitze. Von Steinschlag ist da keine Spur. Gernot wird uns durchs Spaltenlabyrinth führen. Mal ein bisserl links, mal ein bisserl rechts, mal ein großer Schritt über eine Spalte, manchmal gar ein kleiner Hüpfer. Da reicht es einer von uns. Disziplin ist gefragt. Okay, so trotten wir zum Ende des Matscher Ferners. Wir wollten ja eine Eisschraube eindrehen. Immerhin haben Gernots Eisschrauben noch nie Eis gespürt. Aber jetzt will Gernot nicht. So stehe ich als einziger da, der hier am Gletscher bohrt. Die moderate Gruppe holt uns ein und überholt. Fest steht, von den beiden reicht es auch zumindest einem und der will heim.
Wir drei hingegen haben es nicht eilig, rasten nochmals anständig vor dem steilen Gegenanstieg und erreichen am Nachmittag die Hütte. Stolz und unumstößlich mit dem Gipfelsieg in der Tasche faulenzen wir in der Sonne. Am Abend gibt es gar eine Flasche zur Feier des Tages. Zu meiner Freude habe ich eingesehen, dass wir die Nummer 3 in Österreich bestiegen haben. Als solche steht sie eh in meiner Liste, aber ich war ganz sicher, dass der Pöschlturm höher ist. Neun von zehn der Top 10 habe ich somit. Wir planen gleich die Glocknerwand und schielen zum Ortler hinüber. Die Zuversicht ist zurück. Es liegt nicht nur am Wein!
Am nächsten Tag heißt es dann Abschied nehmen. Der Abstieg geht schnell. Am Glieshof trennen sich unsere Wege. Während wir über den Reschenpass Richtung Norden fahren, schlängelt sich Gernot durch Italien nach Kärnten in die fast neue Heimat. Für uns gibt es noch im Restaurant Hubers im Fischerwirt ein feines Essen. Wir arbeiten konsequent an unserer Erholung.
Die drei Tage auf Garmin