Kanzelsteig

Gernots und mein Novemberklettern will gemacht werden. Wir haben mehr Erwartungen als Zeit für die Vorbereitung der Tour. Die Erwartungen sind: unten Nebel und Temperaturen um die Null, oben Sonne und T-Shirt. Ja, so war es schon ein paar Mal, dann soll es auch heute so sein. Da Gernot ein neues E-Auto bekommen hat, ist er am Vorabend beschäftigt. Ich bin vom Haidsteig auch ein bisserl müde. Niemand gleicht die Erwartungen gegen die Realität ab. Vom Haidsteig weiß ich, dass die Hohe Wand die bessere Wahl sein wird. Und auf der Hohen Wand ist es doch immer warm. Eigentlich sollten wir es besser wissen, aber…

Gernot hat ein paar Tourenvorschläge geschickt. Allesamt III und schwieriger. Boah, da ist mir nicht ganz wohl dabei. Ich suche und finde Leichteres. Wir nehmen den Kanzelsteig und können ja oben dann noch die Technikervarianten mitnehmen.

Beim Seiser Toni folgt der erste Wettercheck. Kein Nebel, keine Sonne. Dafür Wind und Schneeflocken. Ich habe beide Mammut-Jacken mit. Die wärmere Jacke habe ich dabei, weil man beim Kraxeln mit Seil viel herumsteht und dabei leicht friert. Jetzt entscheide ich, beide Jacken anzuziehen. Gernot geht es gleich. Der Kanzelsteig ist ein II+. Den sollten wir auch ohne Seil schaffen, meint Gernot. So würden wir weniger herumstehen und nicht auskühlen. Zustimmung! Dann habe ich die glorreiche Idee, dass es noch wärmer wird, wenn wir das Material und das Seil im Rucksack mitschleppen. Für Wärme wäre gesorgt. Machen wir! Ich nehme freiwillig Seil und mein Eisen.

Der Einstieg ist schnell gefunden. Gernot sieht schon die roten Punkte. Diese sehe ich auch, aber erst, wenn ich draufstehe oder ich mich am entsprechenden Fels festhalte. Gernot geht somit vor. Die Kraxelei ist lustig. Ein bisserl viel Nadeln, Bockerln, Steine usw. liegen herum. Das nächste Mal nehme ich noch einen starken Laubbläser mit und mache da ein bisserl Ordnung. Ha, da ist sie schon die „Schlüsselstelle“. Gernot meint, wir gehen ohne Sicherung. Ich bin nicht sicher. Irgendwie muss ich meine Muttropfen heute vergessen haben. So mache ich den Vorschlag, wir nehmen das Seil und Gernot steigt vor. Zustimmung pur, los geht’s!

Bald erkennt Gernot, dass es eh eine gute Idee war, das Seil zu nehmen. Irgendwann rufe ich ihm zu, dass es wieder einmal Zeit wäre für eine Zwischensicherung. Wenn er jetzt einen Abgang macht, kugelt er definitiv an mir vorbei. Somit hat er die Wand eigentlich ohne Sicherung genommen. Zack, da kommt der erste Stein. Deckung und der Kopf ist mal geschützt. Ob der Rucksack schützt? Die Beine sind etwas exponiert. Die Wahrscheinlichkeit für ein Treffer ist eh extrem gering. Schon höre ich dieses grausige Surren des Steins – verfehlt – gut so! Kurze Zeit danach wieder. Diesmal sind es mehrere Steine. Ja, was macht der da oben? Ein dicker Stein springt im Zickzack herunter. Wo jetzt? Links, rechts, links… Deckung und auch verfehlt. Okay, vielleicht bin ich den Steig deswegen noch nicht gegangen. Ist ja ein Wahnsinn da!

Ich steige nach, und das lieber schnell als langsam. Dabei erwische ich es nicht gut. Ja, Himmi! Wo ist der da rauf? Begeistert hat er gerufen, dass er riesige Griffe gefunden hat. Hat er die mitgenommen oder abgebaut? Ich finde da nichts. Keine Sorge, auch ohne die großen Komfortgriffe ist diese Wand, das Testamentwandl, machbar. Gernot wartet schon. Für den ersten Stein übernimmt er die Verantwortung, aber die restlichen schreibt er den Steinböcken zu. So richtig Freund werde ich mit diesen Viechern nicht.

Weiter geht es im „Gehgelände“. Das Seil haben wir schlampig aufgenommen und steigen so eng hintereinander. Dabei reduziert sich die Funktion des Seils darauf, dass keiner alleine heimfahren muss, wenn etwas passiert. Der Steig macht Spaß und bald brauchen wir wieder die Hände. Ah, da drüben startet die erste Techniker-Variante. Die blauen Punkte sehe auch ich aus der Ferne.

Heute bleiben wir mal am Kanzelsteig. Der muss zumindest einmal gemacht werden. Außerdem wird es zunehmend kalt. Gernot steigt wieder vor. Diesmal sucht er ein bisserl nach Griffen. Auch hier gilt: der Steig ist genau richtig, überfordert sind wir kein einziges Mal. Im Nachstieg habe ich dann das Glück auf meiner Seite und spaziere da ohne Erkennen von Schwierigkeiten hinauf. Jetzt sind wir am Grat, der Wind pfeift, der Schnee kommt von rechts. Gemütlich ist anders.

Aha, da ging es zu den anderen Technikervarianten! Fein, aber kalt. Also, aufi! Bald ist das Gipfelkreuz da. Das nenne ich einen komfortablen Standplatz. Sogar eine Kette achtet darauf, dass ich nicht runterfallen kann. Die Finger frieren allerdings und ich könnte noch ein paar Jacken gebrauchen. Gernot kommt den Grat herauf. Was für ein Glück! Die Freude ist groß, die Zeit zum Feiern und Genießen kurz. Wir stopfen das Material in die Rucksäcke und verlassen diesen unwirtlichen Platz.

Die Wilhem-Eichert-Hütte hat offen. Wir können es gar nicht glauben, aber seitdem die neuen Pächter übernommen haben, ist der Besuch hier ein Muss. Die Karte bietet deutlich mehr Speisen als heute Gäste kommen werden. Wir machen Umsatz und wärmen uns auf. Abgesehen vom Steinschlag, ausgelöst durch boshafte Steinböcke, ist der Steig eine wahre Genusskraxelei gewesen. Wir kommen sicherlich wieder. Wärmer sollte es sein. Das schon!

Runter sind wir das Zahme Pechterlein, oder so! Wunderbarer Vormittag in den Bergen, die sich heute deutlich frostiger gezeigt haben als erwartet. Edel war’s!

Die Tour auf Garmin