Hintere Schwärze (3.624 m)

Als Gernot und ich letztes Jahr über den Marzellkamm auf den Similaun gestiegen sind, haben wir immer wieder zur Hinteren Schwärze geschaut. Bedrohlich hat sie damals gewirkt. Das lag sicherlich am Nebel, den Wolken und dem spaltenreichen Marzellferner. Da war auch bald fix, dass wir da hinauf wollen. Doch dieses Jahr wird’s eng. Gernot ist mit seiner neuen Wohnung in Kärnten beschäftigt, und bei mir steht in zwei Wochen das neue Hüftgelenk an. Natürlich bin ich voller Zuversicht, dass der Tausch ein voller Erfolg werden wird. Anderseits gilt: was man hat, das hat man. So engagiere ich wieder einen Bergführer, denn alleine geht man so lange Gletschertour nicht.

Was ich mir immer vor so einer Tour an irrationalen Sorgen mache! Okay, durch die endlosen Gletscherspalten, wird mich Alex, der Bergführer, leiten. Das ist sein Job. Wie er überhaupt den Weg zu finden hat. Aber was, wenn Alex nicht bei der Martin-Busch-Hütte ist oder am Vorabend zu wild gefeiert hat. Lauter Mist geht mir durch den Kopf, sodass ich mich selbst nicht kenne!

Egal, um fünf Uhr läutet der Wecker. Leise stehle ich mich aus dem Zimmer. Renate wünscht mir Glück, Mio ignoriert mich. Das Hotel hat mir ein Lunch-Paket hergerichtet – sehr fein. Am Vortag habe ich mir in Vent ein E-Bike ausgeliehen. Das ist ein Hardtail, also hinten nicht gefedert. Egal, der Verleiher meint, dass ich damit mühelos zur Martin-Busch-Hütte komme. So starte ich um halbsechs. Es ist noch stockfinster, als ich losradle. Die Stirnlampe leuchtet den Weg. Aber das Radl ist suboptimal. Die Federung hinten bietet meines Erachtens nicht nur Komfort sondern auch Grip bei steilen Anstiegen. Passe ich nicht auf, liefert zwar der E-Motor ausreichend Kraft, aber der Reifen dreht durch. Zum Schieben ist das Radl viel zu schwer und die Zeit viel zu knapp. So bin ich ein bisserl gestresst. Aber was ist das? Was funkelt da so auf dem Weg? Wer hat da so viele Reflektoren aufgestellt? Ehe ich das checke, stehe ich schon in einer Herde schlafender Schafe. Mann oh, zur Seite! Ich hab’s echt eilig! Als dann noch zweimal die Kette rausspringt, bin ich knapp dran, den Dreck in den Graben zu werfen und weiter zu Fuß zu gehen. Das ist natürlich keine Option, und ich steige wieder auf mein „Haibike“ auf. Also, Gaßbock oder Bockende Sau fände ich passender!

Etwas zu spät, aber doch komme ich bei der Hütte an. Dort wartet schon Alex auf mich. Alex ist ein paar Jahre jünger als ich, hauptberuflich Berg- und Schiführer, Bergretter sowie gerichtlicher Sachverständiger für Alpinunfälle. Ich geniere mich für meine Sorgen. In besseren Händen könnte ich nicht sein.

Um kurz nach halbsieben starten wir. Ich bin vergnügt aufgekratzt. Alex geht vor, ich folge ihm auf den Marzellkamm. All das in einer Geschwindigkeit wie vor ein paar Jahren, als die Hüfte noch Laufen zuließ und ich entsprechend fit war. Auf 2.820m dann der Abstieg zum Marzellferner. 120 Höhenmeter muss man mittlerweile absteigen, um zum Eis zu gelangen. Wir legen Steigeisen und Klettergurt an. Ich bin umsorgt: „Ja Gottfried, du kannscht auch schon die Handschuhe bereithalten. Nicht wegen der Kälte, sondern wegen dem Schutz vorm Eis! Vielleicht magscht auch schon die Sonnenbrille griffbereit haben.“.

Wir steigen los. Das Morgenlicht lässt einen Blick nach oben zu. Keine Spalte weit und breit im ersten Abschnitt. Das Eis ist griffig! Ich dachte, wir werden unentwegt über Spalten steigen. Völliger Quatsch, wieder eine Sorge fürs Erste entsorgt. Alex geht vor und ich steige nach. Schnell sind wir unterwegs, ich sage nichts. Im Nachhinein weiß ich, dass ich mir dazu Sorgen machen hätte sollen.

Rasch sind wir auf 3.000 Meter angelangt. Ein paar Spalten versperren den Weg, aber nichts Dramatisches. Alex sucht und findet schnell einen Weg. Springen kann ich nicht und balancieren will ich nicht, das habe ich rechtzeitig angemerkt. Vorgewarnt, dass sich das vielleicht nicht ganz vermeiden lässt, stehe ich nun da und sehe, dass mir da nichts als besonders herausfordernd erscheint. Abseits der Anstrengung, aber die kenne ich ja.

Der Gletscher ist nicht sonderlich steil, und so spazieren wir in dieser tollen Eislandschaft. Selten kommt hier jemand her, meint Alex. Auch heute macht sich von der Hütte niemand sonst auf den Weg. Die Hintere Schwärze liegt abseits der ausgetretenen Pfade. Die Nordwand ist noch bekannt. Noch hat die Klimaerwärmung genug übrig gelassen. Aber die lassen wir aus.

Der flache Teil liegt hinter uns und wir machen wieder Höhe. Das Eis ist griffig und nicht ganz hart. Optimale Bedingungen sind das. Wir sind bald auf knapp 3.400m und da ist sie plötzlich. Körperliche Erschöpfung ist da. Ja, woher denn? Sonst achte ich so sehr auf mich, aber diesmal bin ich da immer brav hinten nach marschiert. Das war nicht schlau, zumal der, dem ich nach bin, als Bergführer ein bisserl öfters als ich unterwegs ist. Und steil wird es jetzt auch nochmal im letzten Anstieg! Eine alte Spur führt den Hang schnurstracks hinauf. Alex meint, dass das Eis hier 35 bis 40 Grad steil ist. Mir kommt es steiler vor. Mulmig wird es mir. So vertraut sind mir die Steigeisen dann doch nicht. Mag sein, dass ich seit Jahrzehnten sie immer wieder anhabe, aber eben nur ein, zwei Mal pro Jahr. So folge ich am kurzen Seil. Wie Mio, wenn er Angst hat, weiche ich keinen Schritt von Alex Seite. Ich bezweifle, dass uns etwas hält, wenn einer von uns beiden ausrutscht oder stolpert. Meinen Hang zum Stolpern kenne ich. Also, Blick auf den nächsten Schritt und schön eng hinten nach. Die Luft geht aus und wir müssen gar ein paar Mal innehalten. Alles geht vorbei, auch diese wahrscheinlich nicht einmal 50 Höhenmeter. Eine paar Meter steiles Eis nochmals und wir legen Steigeisen, Pickel und Handschuhe ab. Jetzt geht es den Fels hinauf. Erst steil und dann flach. Bei mir ist die Luft draußen. Pech, dass mich das so knapp vorm Ziel einholt. Aber die letzten 50 Höhenmeter schaffe ich auch noch. Das weiß ich. Da beißt keine Maus einen Faden ab!

Schon weiter unten waren wir der Meinung, dass wir zwei Menschen am Gipfel sehen. Nun haben wir sie das letzte Mal gesehen. Lange waren sie heroben, aber begrüßen wollten sie uns nicht. Auch Alex ist ein bisserl ratlos, wo sie her und nun wieder hin sind. So bleibt uns der Gipfel alleine. Kein Wind, uneingeschränkt Sonne und angenehme Temperaturen. Jause und Plaudern stehen am Programm. Besser könnte es nicht sein.

Gut gestärkt und ein bisserl erholt gehen wir den Abstieg an. Wie ich den steilen Hang wieder runterkomme? Nun ja, mit dem Gesicht voran ist mir das zu steil. Im allgemeinen und auch ein bisserl wegen der Hüfte. Beim Abstieg merke ich sie doch beträchtlich, mein Gang hat sich in den letzten Monaten recht versteift. Keine Sorge, zur Not seilt mich Alex ab. Schon ist die erste kurze Steilstufe geschafft, wir kommen zum längeren Hang. Ich soll der alten Spur da folgen, die den Hang nach unten quert. Dabei soll ich immer nur auf den nächsten Schritt schauen. Ja, die Tipps kenne ich, nur halt nicht als Empfänger. Aber ich halte mich daran und mache mechanisch einen Schritt nach dem anderen. Querungen mag ich für gewöhnlich nicht, aber diesmal geht es deutlich besser als sonst. Und dann ist der Hang auch schon vorbei. Mann oh, nichts ist leichter als überstandene Herausforderungen.

Der Abstieg ist erträglich, ein Stolpern gehört bei mir fix dazu, aber sonst geht’s gut. Alex hatte beim Aufstieg die Augen offen. Und so umgehen wir den Spaltenbereich, in dem er beim Aufstieg ein bisserl suchen musste, orographisch ganz rechts. Alles ab nun unspektakulär bis zum Ende des Eises. Ein kleines Workout mit 120 Höhenmetern auf den Marzellkamm wartet und nervt ein bisserl. Oben angekommen biete ich Alex an, dass er schon vorzischen kann, aber er verweigert. So steigen wir noch die 300 Höhenmeter zur Hütte ab, wo wir uns Getränke und ein bisserl etwas zu essen gönnen. Tadellose Tour, tadellose Bedingungen! Ich bin stolz wie Oskar!

Auf mich wartet noch der mühsame Ritt auf meinem Geißbock. Der ist nicht angenehm, aber unvergleichbar besser als die knapp acht Kilometer zu Fuß. Auf einem Fully wäre es es ein Spaß, so ist es zumindest eine Erleichterung. Nach einer halben Stunde bin ich in Vent. Yes, geschafft! Ein bisserl ausgebrannt, ein bisserl sehr ausgebrannt. Stiegen steigen ist kein Spaß. Liege ich im Bett, kann ich meinen Oberschenkeln zuschauen, wie sie auf noch nie da gewesener Art und Weise krampfen. Das Schauspiel ist beeindruckend und auch schaurig. Egal, wie ich die Beine lagere, irgendwo krampft ein überanstrengter Muskel. Irgendwann ist das bislang in meinem Leben einmalige Phänomen vorbei. Das ändert nichts: wert war die Tour das allemal!

Resümee: Ich hatte wieder einmal viel mehr Sorgen als angebracht. Nicht ein Bruchteil ist eingetreten. Der Marzellferner ist zerklüftet, aber bei diesen Bedingungen meines Erachtens nicht sonderlich gefährlich. Ich war in besten Händen, ein erfahrener Bergführer hat mich durch das Labyrinth geleitet. Da lässt es sich leicht sagen, dass es eine einfache Angelegenheit ist. Der eine steile Abschnitt war für mich an diesem Tag die Schlüsselstelle. Da hatte ich mit mir selbst genug zu tun. An anderen Tagen mag dieser Hang einfacher oder auch deutlich schwerer sein. Oder die Herausforderung besteht im Finden des richtigen Wegs durch die Spalten. Ich hatte jedenfalls weit mehr Spalten erwartet! Die Tour ist lange und anstrengend. Aber das darf sie ruhig sein. Und edel ist die Tour! So edel, dass ich mir wiederum denke, warum die Hintere Schwärze im Sommer so selten besucht wird. Aber das muss ich ja nicht verstehen. Ich kann die Tour jedenfalls empfehlen!

Aufstieg auf Garmin
Abstieg auf Garmin (nicht vollständig)