Renate fühlt sich als gebürtige Steirerin verpflichtet, den höchsten Berg der Steiermark zu erklimmen. Der Hohe Dachstein ist mit seinen 2.995 m nicht nur der höchste Berg der Steiermark und Oberösterreichs. Spitzfindige glauben zu wissen, dass das Gipfelkreuz auf der steirischen Seite steht. Nach italienischer Messung ist er übrigens 3.007 m hoch, aber das ist eine andere Geschichte.
Von meinem letzten Besuch vor fünf Jahren weiß ich, dass es sich am Klettersteig in der Früh ziemlich stauen kann. Ich weiß auch, dass damals um die Mittagszeit keine Bergsteiger mehr warteten. Die Wettervorhersage sieht windiges, aber sonst sonniges und trockenes Wetter. Sollte passen! Die Ausrüstung für den Randkluftsteig lassen wir daheim. Ich habe keine Lust auf das Schleppen der Gletscherausrüstung. Wir werden also den Schulteranstieg hinauf- und wieder hinuntersteigen.
Eigentlich wollten wir auf der Seethalerhütte übernachten. Wir hatten auf den Sonnenuntergang und Sonnaufgang gehofft. Aber leider ist laut Hüttenwirt alles voll. Vorort erfahren wir dann, dass eigentlich „alles leer“ richtig gewesen wäre, weil zwei Tage lang spontan geschlossen war oder geschlossen werden musste.
So wählen wir wieder einmal Schloss Pichlarn, von wo es eine knappe Stunde zur Südwand des Dachsteins ist. Wir reservieren unsere Bergfahrt für 10:45. Aber das habe ich mir anders vorgestellt! Die Parkplätze haben sich schon gefüllt, wir parken entlang der Straße und müssen die letzten paar Hundert Meter zu Fuß weiter. Zeitreserven waren eingeplant und wir schaffen es bis 10:45 zur Seilbahn. Aber statt einem „Kommen Sie nur vor!“ erwartet uns eine Schlange. Die 10:30-Reservierungen warten vor uns, wir inmitten der 10:45er. Die Sonne brennt runter, keine Gnade für mich in langen Hosen und langem Shirt, präpariert für den Gletscher. Meine Beobachtungen ergeben: bei normalem Andrang fahren die Gondeln alle 20 Minuten, bei hohem Andrang alle 7,5 Minuten. Da passen die Reservierungen alle 15 Minuten nicht dazu. Entweder ist das genial, weil es letztlich ganz gut gepasst hat – wir haben die Gondel um 10 Uhr 52 und 30 Sekunden erwischt und waren wie geplant um 11:00 bei der Bergstation – oder es ist dann doch im mathematischen Sinne irgendwie vertrottelt. Es gibt noch weitere Parameter wie die Kapazität der Gondel und die Anzahl der verkauften Plätzen. Die Verantwortlichen machen sogar Überbuchungen, cool! Steckt doch Software mit künstlicher Intelligenz hinter dem Algorithmus oder eher steirische Gelassenheit á la „Das geht sich jeden Tag irgendwie aus! Oben geblieben ist auf jeden Fall noch keiner und wenn, dann hat er auch irgendwie runtergefunden!“.
Bei der Bergstation warten die singenden Murmeltiere wie auch vor fünf Jahren auf ihre neuen Pflegeeltern. Wir sind es nicht, wir sind eher happy, dass wir nicht die kurzen Hosen gewählt haben, denn neben den Murmeltieren pfeift auch der Wind anständig. Die Bedingungen sind rauer geworden: Hütte geschlossen, lebhafter Wind,.. Zum Glück hat Renate ihre Polarbären bzw. Polarbeeren in die Trinkflasche gefüllt.
Nur wenige Wanderer sind auf dem Weg Richtung Seethalerhütte. Ich sehe keine Helme, unser Plan könnte aufgehen. Am Einstieg sehen wir dann doch schon aus der Ferne vier Kletterer in der Wand. Weit sind sie noch nicht gekommen. Sie bewegen sich auch nicht. Seltsam, sind die Deko? Wir kommen näher, aber die bunten Kleckse kleben mit gespreizten Beinen an der Wand. Hängen die schon seit den Morgenstunden da? Am Einstieg macht sich eine Einzelgängerin fertig, von der Seethalerhütte stürmt eine Gruppe in voller Montur und gut ausgerüstet aber in Trailschuhen herbei. Turnschuhe und Pickel – eine seltsame Kombi! Die fünf Herren kommen aus dem Osten, also nicht nur von der östlichen Seethalerhütte sondern auch aus Tschechien. Kein Gruß – stattdessen im Stechschritt in die Wand. Das verschreckt die Farbkleckse. Die Verstopfung löst sich und so sind bunte neunköpfige Perlenkette vor uns. Das wird gut gehen. Wir starten zu dritt in die Wand.
Der Steig ist am Anfang ein C und ein bisserl schwer, aber nicht sehr. Bei weniger Schnee ist der Einstieg vielleicht übler. Bei uns tut sich eher nur ein Randklüftchen auf. Trotzdem muss man sich da ein bisserl nach vorne fallen lassen. Nach links sollte man nicht schauen. Da tut sich hinter einem schmalen Spalt dann schon ein bisserl größerer Abgrund auf.
Die Sonne lacht, der Wind pfeift, der Fels ist ein bisserl abgeschliffen, aber okay. Es geht dahin. Die Einzelkämpferin ist Lise aus den USA. Ich plaudere angeregt und vergesse ganz, dass ich ja mit meiner Frau da bin. Renate hängt an einer der C-Stellen unter mir und will den passenden Tritt nicht finden. Ich bin mit meinem Schulenglisch oder besser mit meinem Deutsch-Italienisch-Polnisch-Englisch gut gefordert. Gut, dass mich Duo mit Spanisch und Arabisch unterstützen will, aber ich überhöre meine Frau, die ihre Seele in den Wind schreit. Die Situation könnte eskalieren, alles Welt hätte Verständnis. Da zeigen sich die Qualitäten meiner lieben Frau. Ich steige vorsichtig ab zu ihr. Mein Verhalten hätte eine neue Frisur gerechtfertigt. Und da hätten mich weder Helm noch mein Drei-Millimeter-Schnitt gerettet. Jeder Richter hätte sie verstanden, wenn sie mich in der Randkluft entsorgt hätte. Aber sie bleibt ruhig. Ich sehe nicht einmal einen „Stirb“ doch!“-Blick an ihr. Nichts, gar nichts! Das macht mir noch ein schlechteres Gewissen. Fix ist, ich bleibe besser hinter ihr.
Nun unterhält sich Renate mit Lise. Lise feiert ihren Geburtstag am nächsten Tag. Wir sind in also nur ein paar Jahre älter. Renate posaunt raus, dass sie im November 53 wird. Das ist mir zu dreist, ich erhebe inbrünstig Einspruch: „So ein Blödsinn, du wirst 56!“. Ein weiterer Grund, wenn auch im Affekt, der mir ein restliches und sehr kurzes Leben in der Randkluft bescheren hätte können. Ab jetzt muss das mit dem Zusammenreißen aber klappen für heute. Mann oh!
Der Steig ist mittlerweile leichter geworden, Schwierigkeitsstufe B bis B/C. Und doch ist er länger als gedacht. Das Gipfelkreuz scheint noch fern. Der Randkluftsteig hat optimale Bedingungen, soweit ich das aus der Ferne beurteilen kann. Aber ohne Pickel ist er im Abstieg wohl zu steil. Schade!
Ab dort, wo der Randkluftsteig in den Schultersteig mündet, geht es wieder etwas zünftiger bergauf. Uns kommen jede Menge Kletterer entgegen. Die Trailschuhgruppe springt wohl gelaunt in Richtung Randkluft. Na, das werden wir beobachten.
Wir erreichen das Gipfelkreuz – herrlich! Was für ein Panorama! Die Dohlen fressen mir die Manner-Schnitten aus der Hand. Ja, die Saison ist kurz da heroben. Da darf man nicht schüchtern sein. Ob die Skitourengeher auch so spendabel sind?
Nach den obligatorischen Fotos geht es wieder runter. Immer wieder schaue ich zum Randkluftsteig. Dort könnten wir viel Zeit sparen. Eine Fünfer-Gruppe versucht sich gerade. Sie sind ohne Seil, aber mit Pickel. Ich überlege, da stürzt einer in die Tiefe. Mit der Hand am Handy für die Bergrettung, „stürzt“ der zweite in die auf dieselbe Art und Weise in die Tiefe – am Hosenboden. Die haben Spaß dabei! Geht’s noch? Ob die beiden die Spalten kennen, die zum Vorschein kommen, wenn der Schnee weggeschmolzen ist? Lise fragt, ob wir das auch machen werden. Für mich ist die Antwort „Sicher nicht!“, schon aus Prinzip nicht.
So steigen wir den Klettersteig wieder ab. Erst gegen Ende, als die C-Stellen warten, halte ich es nicht mehr aus. Da hängt so ein altes Seil eine Felsrinne Richtung Gletscher runter. Ich bin weit vor Renate und Lise und will das probieren. Das Seil endet gut zehn Meter vor dem Gletscher. Das Gelände ist brüchig, aber was soll schon viel passieren.? Im schlimmsten Fall kollere ich da runter, bis ich noch ein paar Meter in den Auslauf des steilen Schneefelds rutsche. Renate ruft von oben. Mein Vorschlag ist also, ich checke, wie der Übergang zum Gletscher und die Querung am Gletscher zur ausgetretenen Spur ist und gebe danach meine Empfehlung. Gesagt, getan. Ich bald stehe ich in der Spur. Alles machbar, ein bisserl fordernd und sicherlich gut für die Erinnerung. „Ja, du kannst nachkommen!“. So stehe ich da und schaue zu, sehe wie Renate in interessanter Haltung absteigt. Ich kann gar nicht recht hinschauen, aber dann ist sie auch schon am Schnee und bald bei mir. Auch Lise ist gefolgt. Ich höre ein „The rope ends here!“, antworte mit „Jepp!“. Es folgt ein „That’s a bit scary!“, aber Angst ist nicht Lises Thema. So quert auch sie erfolgreich zu uns und bestreitet die letzten Meter auf mir fremde Art und Weise. Sie setzt sich in die Spur und rodelt am Hosenboden, offenkundig mit großer Freude, fast bis zum Einstieg des Klettersteigs. Sachen gibt’s!
Wir wandern wieder zur Bergstation und besuchen noch die Eishöhle. Ein Besuch, den ich empfehlen kann. Kalt ist es halt in so einem Gletscher. Hängebrücke und Skywalk sind Attraktionen, die die Besucher hier herauflocken. Auch diese Attraktionen sind beim Ticket inkludiert, aber für jemand, der gerade einen Klettersteig gemacht hat, nicht so beeindruckend, wie für viele andere Gäste. Toll gemacht sind die Sachen allemal.
Für uns geht es wieder mit der Seilbahn runter. Buchung, Reservierung und Verkauf verstehe ich auch jetzt nicht. Zehn Leute sitzen am Dach der Gondel im Freien. Ja, was haben denn die angestellt? Egal, für uns geht ein wunderbarer, kurzer Ausflug in die hohe Bergwelt zu Ende. Prädikat: tadellos!
Die Tour auf garmin.com (leider etwas unvollständig)























